Leo XIII./XIV.
Editorial aus dem aktuellen Heft 5 (Oktober) 2025
Kaum war Kardinal Robert Francis Prevost OSA zum neuen Pontifex maximus gewählt und ins Freie getreten, ging das Rätselraten los. Was mochte der soeben verkündete Papstname Leo XIV. bedeuten? In welche Traditionslinie reiht sich der Augustiner ein? Anlaß genug, sich als bestallter Fernsehkommentator mit historisch-theologischer Ahnungslosigkeit hervorzutun. Es dauerte, bis einem „Experten“ Vincenzo Gioacchino Pecci/Leo XIII. (1810-1903) einfiel. Stefan George hat diesem 1901/02 ein hymnisches Gedicht gewidmet. Über den Segen Urbi et Orbi heißt es darin: „So sinken wir als gläubige zu boden/ Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge./ Die schön wird wenn das wunder sie ergreift.“
Solange Leo XIV. keine Entscheidung trifft, die den wunderlosen Plausibilitäten der Jetztzeit, dem im „Jargon der Weltoffenheit“ (Frank Böckelmann) Dargebrachten widerspricht, lassen ihn die Medien in Frieden und berichten von den vielfältigen Choreographien, in welche die römische Kurie ihr weißes Zugpferd einzuspannen weiß. „Doch er muß sich bald positionieren“, mahnt die Neue Zürcher Zeitung mit Blick auf die immergleichen Forderungen nach „Veränderung“.
Bis es so weit ist, nutzen liberale Konservative in der Kirche die Zeit, um Brücken zu Leo XIII. zu schlagen – hoffend, Leo XIV. werde seine hier und da gestreuten Hinweise auf den Namensvorläufer in die Tat umsetzen und alsbald eine Sozialenzyklika in dessen Geist und Sinn vorlegen. Bei allen Verdiensten, die man Leo XIII. zugestehen muß, auch wenn er keineswegs der „Begründer“ der katholischen Soziallehre, sondern nur ihr Anwender auf die „soziale Frage“ seiner Zeit war, scheint vergessen, wie zeitgeistaffin, wie modern er war – um nicht „modernistisch“ zu sagen bei einem, der als Bekämpfer des Modernismus gilt. Seine Idee, zugleich „Papst und Staatsmann“ (Jörg Ernesti) zu sein, seine Medienbegeisterung (als erster Papst, der sich filmen und seine Stimme aufnehmen ließ), sein Interviews- und Einblick-Geben, seine liberalistisch inspirierte Indienstnahme von Thomas von Aquin für ein angeblich „von Natur“ bestehendes Individualrecht auf Privateigentum – um nur diese Punkte zu nennen – haben sich als Hypothek erwiesen. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Papst zu einer völlig überhöhten Figur, auch zum Medienspektakel geworden im Gegensatz zu dem multipolaren Orbis catholicus. Johannes Paul II. und Franziskus trieben die Konzentration auf sich auf die Spitze und genossen das Bad in der Menge. Es wäre an der Zeit, diese Überfrachtung mit allerlei Ansprüchen, Sehnsüchten und Projektionen abzubauen. Paolo Sorrentinos Filmserie „The Young Pope“, die einen US-Amerikaner auf dem päpstlichen Thron voraussah, könnte dazu anregen. Besteht doch die Mission von „Pius XIII.“ gerade darin, sich der Öffentlichkeit zu entziehen (vgl. Mk 1,35; 6,46 u. ö.) und die Sinne wieder auf Gott, den Unsichtbaren, zu lenken.
Wenigstens kam die seit Johannes Paul II. ins Uferlose gesteigerte Selig- und Heiligsprechungsproduktion, die nicht mal vor ihm selbst haltmachte und jetzt sogar 15jährige Computer-Nerds erfaßt, nicht auf die Idee, Leo XIII. zu kanonisieren. Hiergegen hätte der Schriftsteller Léon Bloy (1846-1917) die Rolle des Advocatus diaboli einzunehmen. Am 21. Juli 1903 trug er in sein Tagebuch – eine „Agenda du commerce de lʼindustrie et des besoins journaliers“, deren Titel er durchgestrichen und mit „Memoranda“ ersetzt hatte – ein: „Als wir nach Hause kamen, erfuhren wir, daß Leo XIII. gestern um 4 Uhr nachmittags verstorben ist. Wir sind von diesem lang erwarteten Ereignis überrascht, und ich glaube, daß sich unser Leben dadurch grundlegend verändern wird. Seit mehr als 20 Jahren warte ich auf den Nachfolger von Leo XIII.“ Letzterer war 25 Jahre lang Papst; kein Papst wurde je älter als der mit 93 Jahren Verewigte. Anders als Außenstehende glauben mögen, ist die Ungeduld mit langen, von Idiosynkrasien geprägten Pontifikaten (wie etwa dem kürzlich zu Ende gegangenen) ein durchaus katholisches Lebensgefühl.
Seine Abneigung gegen Leo XIII. hatte Bloy – zeitgleich mit Georges Gedicht – in eine Parabel seiner „Auslegung der Gemeinplätze“ verpackt. Sie handelt von einer armen gottesfürchtigen Familie, die neben ein paar frommen Bildern vom Trödelmarkt eine Darstellung des Papstes als Schutzengel an der Wand in Ehren hält, doch plötzlich ins Unglück stürzt. Der Vater wird von einer Fabrikmaschine überrollt, die Wohnung zwangsgeräumt, die Mutter stirbt an Entkräftung und gebrochenem Herzen, der Sohn findet sich vier Jahre später als Zuhälter seiner beiden Schwestern wieder. Die Parabel endet bitter: „Er wußte damals bereits, daß der Hausbesitzer, der ihren Schiffbruch besiegelt hatte, indem er sie legal aus ihrer Wohnung vertrieb, ein Ausländer namens Pecci war und auf dem Stuhl Petri in Rom saß … Ja, sehr Heiliger Vater, Ihr habt das Gesetz auf Eurer Seite gehabt.“
Das weltliche Gesetz auf der Seite zu haben ist ein Gemeinplatz, den auch die Kirche gern in Anspruch nimmt, etwa wenn sie sich als Arbeitgeberin oder Immobilienbesitzerin nicht anders verhält als natürliche Personen und weltliche Instanzen. Bloy meinte aber etwas anderes: Leos Verrat an der französischen, von Katholiken verteidigten Monarchie durch den Anschluß (Ralliement) an die laizistische Dritte Republik im Namen der Fürsorge (Au milieu des sollicitudes, 1892). Bloy sah darin eine Begünstigung „des Atheismus, des Abfalls vom Glauben, des Sakrilegs, des Vatermords, des Kindermords“, der „Demokratisierung des Klerus, Dinge, die durch keinen Text gerechtfertigt werden können.“ Er würde sich der schlimmsten Qualen unterziehen, bevor er sich weigern würde, dem unfehlbaren Nachfolger in Fragen des Glaubens und der Disziplin zu gehorchen. „Aber alles andere ist meine Sache, und jeder Christ muß sich über ein menschliches Versagen des Papstes grämen.“ Mit dieser Unterscheidung war Bloy seiner Zeit weit voraus. Kontingente politische Arrangements der kirchlichen Hierarchie schließen weder Kritik aus noch können sie die Gläubigen im Gewissen binden; sie gründen nicht im Dogma, sondern in zeitbedingten Absichten und Opportunitätserwägungen. So ist auch das von Leo XIV. fortgesetzte Geheimabkommen mit dem kommunistischen China von 2018 ein Verrat an der Untergrundkirche, kurz: eine Schande.
Wolfgang Hariolf Spindler