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Wozu diese Zeitschrift?

Editorial aus Heft 3 von 2022

Wer das erste Heft des ersten Jahrgangs dieser Zeitschrift vom Oktober 1946 zur Hand nimmt, dem steigt ein fast stechender Geruch in die Nase. Es ist der typisch saure Muff seinerzeit so kostbaren, inzwischen vergilbten, doch nach wie vor festen Papiers. Noch atemberaubender als der Duft ist der Anspruch, den Herausgeber, Schriftleiter und Verleger auf acht Druckseiten formulieren. Als Ziel der Zeitschrift nennen sie, die Kühnheit des Unternehmens einräumend, im Sperrsatz: „Die christliche Kultur des Abendlandes vor dem Untergang bewahren bzw. sie erneuern und fördern zu helfen, und zwar dadurch, daß das Ordnungsbild dieser Kultur nicht nur in seinem geschichtlichen Werdegang und seiner geschichtlichen Bedeutung, sondern vorab in seiner tiefsten Verankerung und unbedingten Geltung, in seinen zeitgemäßen Ansprüchen und Verwirklichungsmöglichkeiten aufgezeigt wird.“ Es gehe nicht nur darum, über „Gewesenes und Verlorenes“ zu unterrichten, sondern auch zur praktischen Verwirklichung der „Wahrheiten des christlichen Glaubens“ und der „Normen der christlichen Ethik“ zu bewegen sowie „Erneuerungsbewegungen“ auf den richtigen Kurs zu bringen. Erkennbar wird der klassische Dreischritt der auch für die Predigt, etwa im Ordo Fratrum Praedicatorum, geltenden römischen Rhetorik: docere, conciliare, movere ‒ Menschen lehren, gewinnen, bewegen. Wobei nach Cicero der konziliante Auftritt das Unterhalten des Publikums mit einschließt.

Würde die heutige Redaktion vor die Aufgabe gestellt, diese Zeitschrift ins Leben zu rufen und theoretisch zu begründen, wäre sie vermutlich vorsichtiger. Vom Lauf der Geschichte ernüchtert, würde sie sagen: Das christliche Abendland ist, wenn nicht 1806, so 1914 untergegangen. Und mit ihm seine Kultur. Man muß sich wundern, daß die Altvorderen unter dem Eindruck des totalen Zusammenbruchs nach dem grauenhaften, ohne Friedensvertrag zu Ende gegangenen Dreißigjährigen Krieg des 20. Jahrhunderts den Mut und die Zuversicht aufbrachten, denkend und schreibend vor dem Untergang bewahren und eine geistig-geistliche Erweckung anstacheln zu wollen. Heute, mehr als 75 Jahre später, existieren von dieser Kultur nur mehr Restbestände: Säkularisate, Surrogate, um nicht zu sagen Kulissen. Ein Großteil der Tonangebenden will selbst diese noch beseitigen.

So wird die Aufgabe heute eher darin bestehen, Ursprung, Ziel und Niedergang dessen, was diese Kultur in der Vielfalt ihrer Institutionen und Traditionen einmal ausgemacht hat, möglichst genau zu beschreiben, zu dokumentieren, auch erinnernd und erklärend präsent zu halten, um auf diese Weise einen Gedächtnisspeicher, ja womöglich ein Vermissungswissen zu schaffen. So Gott will, können Nachgeborene dereinst darauf zurückgreifen, daran anknüpfen. Das wäre schon einiges. Den Zeitgenossen kann die Zeitschrift allenfalls individuellen Erkenntnis-gewinn verschaffen. Auf Kollektive, auf Bewegungen zu setzen erscheint illusorisch. Gleiches gilt für die Orden, die in unseren Breitengraden damit beschäftigt sind, sich mit Würde abzuwickeln. Wer vor 30 Jahren durch Städte wie Würzburg oder Münster ging, begegnete Ordensfrauen auf Schritt und Tritt. Jetzt sind sie aus dem Stadtbild weithin verschwunden. Da wirkt es ungewollt komisch, wenn Mitraphoren angesichts der mitzuverantwortenden Misere der völligen Verwirrung und der Zerredung des Glaubens immer noch von Aufbrüchen oder gar Neuaufbrüchen faseln. Im übrigen: Wer aufbricht, läßt andere zurück. Wäre es nicht an-gebrachter, sich auf das συλλέγειν, das Sammeln der guten Fische aus dem Netz (Mt 13,48) zu besinnen?

Es bringt wenig, sich um die Erkenntnis der Realität zu drücken. Christen machen hierzulande noch etwa 5 % aus. Denn es zählen nur die, die tatsächlich aus dem Glauben leben. Kirchensteuerzahlende Abständige, gelegentliche oder „anonyme Christen“ einzurechnen gleicht einem Selbstbetrug. Realitätserkenntnis beginnt und endet freilich damit, daß Gott dessenungeachtet ist und daß er sein ungeteiltes Wesen in drei „Gesichtern“ (Klaus Berger) ‒ Vater, Sohn und Heiliger Geist ‒ zeigt und erfahrbar macht, wenngleich in den Grenzen, die durch die zu allen Zeiten spürbare Verstandesschwäche des Menschen infolge der Ursünde gesetzt sind. Der Hades kann die Kirche nicht zerstören (Mt 16,18), und bestünde sie am Ende der Tage nur mehr aus zehntausend oder zwei oder drei Gläubigen.

Wir verfolgen mit dieser Zeitschrift keine Strategie. Wir wollen niemanden gewinnen, um ihn für ein politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches „Projekt“ einzuspannen. Die Katholische Soziallehre, der sie sich verpflichtet weiß, bildet nicht selbst die Norm. Das Gemeinwohl, das diese in immer neuen Anläufen beschreibt, ist nach Thomas von Aquin ein vorgesellschaftliches Objekt und als solches die höchste moralische Norm, in die das gesamte personale Leben mit allen „subjektiven“ Rechten und Pflichten integriert ist. Seit dem göttlichen Schöpfungsakt sind alle Geschöpfe zu einer Einheit, eben im universalen Bonum commune verbunden, „quod est Deus ‒ das Gott ist“ (Summa Theol. I-II 109,3). Um das Gemeinwohl konkret, sprich: kontextgebunden bestimmen zu können, bedarf es der Berücksichtigung aller Facetten von Religion, Kultur und Gesellschaft. Diese besser zu verstehen und zu deuten will diese Zeitschrift einen Beitrag leisten. Ihre Wissenschaftlichkeit erweist sich nicht anhand von Zeitgeist-Adaption und Fußnoten, sondern durch Befähigung und Rückführung zu „Gedankengängen grundsätzlicher Art“. So hieß es schon im Editorial von 1946. Wenn ihr, wie von unberufener Seite geschehen, der fachwissenschaftliche Charakter abgesprochen wird, kann sie das nicht treffen. Um den ging es ihr ausdrücklich nie. Es gibt die „NO“ aber noch. Während andere Blätter längst eingegangen sind oder, bis es soweit ist, sich mit pseudowissenschaftlichem Putz versehen, der niemandem nützt.

Wolfgang Ockenfels hat diese Zeitschrift über 30 Jahre lang redigiert, das heißt „in Ordnung gebracht“. Also mehr als doppelt so lang, wie Ehen in Deutschland durchschnittlich halten. Wenn er nun das Staffelholz übergibt, gebührt ihm für seine asketische Leistung Dank und Anerkennung. Zumal mit seinen Editorials hat er Unzähligen aus dem Herzen gesprochen, manche gereizt, jedenfalls boxend nie in die Luft geschlagen (vgl. 1 Kor 9,25f.). Vor allem wußte er die Leser auch zu erheitern. Vergelt’s Gott!

Wolfgang Hariolf Spindler