Großer Sprung nach vorn
Editorial aus dem aktuellen Heft 2 (April) 2025
Wer immer sich mit Phänomenen des Wetters beschäftigt, wird früher oder später auf Bauernregeln zurückgreifen. Diese beruhen auf Beobachtungen von natürlichen Ereignissen, aus denen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit andere Ereignisse ableiten, ja vorhersagen lassen. Man kannte sie bereits in der Antike und gab sie von Generation zu Generation weiter. Das christlich durchdrungene Mittelalter verknüpfte sie mit dem Heiligenkalender des Kirchenjahres – zum Beispiel am 24. Februar „Mattheis brichtʼs Eis; hat er keines, macht er eines“ – und versprach sich von dessen Beachtung ein gutes Los für die Landwirtschaft und damit für das Wohlergehen des Volkes.
Doch schon Jesus kritisierte, daß „die Menge“ aufgrund von Bauernregeln das „Gesicht von Erde und Himmel“ zu beurteilen verstehe, aber nicht den Kairόs, sprich: das, was „diese Zeit“ verlangt (Lk 12,54-56). Es gilt also, auch die politisch-moralische Wetterlage zu deuten, und zwar unter Einschluß der kulturellen, sozialen und religiösen Dimension.
Diese Zeitschrift versucht sich daran. Aber nicht, indem sie Partei wird. Das lateinische Wort pars, von dem die Parteien, zumal die politischen, sich ableiten, bedeutet Teil. Wer sich nur für einen Teil interessiert, vernachlässigt die anderen Teile. Für Institutionen, die das Bonum commune, das leiblich-geistig-seelische Wohl aller, in Wort und Tat anstreben oder zumindest in den Vordergrund rücken, kommt das nicht in Frage. Die Überparteilichkeit – übrigens auch der Kirche als göttlicher Stiftung – verlangt zwar bisweilen, für Übergangene, ins soziale Abseits Gestellte punktuell Partei zu ergreifen, zumal dann, wenn die Ausgrenzung im Namen einer pseudoreligiös überhöhten Demokratie geschieht. Das heißt aber nicht, der Partei inhaltlich beizutreten.
Wer zu begreifen sucht, was momentan in Deutschland geschieht, kann zunächst auf eine alte Bauernregel zurückgreifen und – mit kleinem Buchstabentausch, aber großer Untertreibung – sagen: Ein Merz macht noch keinen Frühling. Dank dem abenteuerlichen politischen Pinocchionismus blühen uns ein weiterer herber Verlust des Vertrauens in den demokratischen Rechtsstaat, ein Ersticken der nächsten Generation(en) an der Zinslast, eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit Deutschlands von seiten der internationalen Rating-Agenturen, eine Abwertung des Euro, Steuererhöhungen, eine nochmalige Steigerung des politischen Irrationalismus („Klimaneutralität bis 2045“, die neue Stunde Null hundert Jahre nach 1945, als verfassungsrechtliches Staatsziel; höhere Prämierung illegaler Einwanderung) just in dem Augenblick, da die linksgrüne Dominanz im Bund gebrochen schien, noch weiter steigende Lebensmittel- und Energiepreise und vor allem eine massive Inflation von vielleicht 9 %. Vergleicht man die geplanten schuldenbasierten „Investitionen“ des Staates etwa in Kriegsrüstung und (begrifflich aufgeweichte) Verteidigung mit denen für Bildung, Krankenhäuser und Pflege, dann ergibt sich ein so krasses Mißverhältnis, daß man um die Zukunft der Bevölkerung ernstlich bangen muß; einmal davon abgesehen – dies glaubt der Sprößling von Berufssoldaten beurteilen zu können –, daß die deutsche Bundeswehr im Grunde schon seit 1982 nicht mehr wehrfähig, geschweige denn kriegstauglich ist, was weitaus mehr an Personalgewinnung, Innerer Führung und Traditionsverständnis liegt als am Geld. Soll jemand für „Klimaschutz“ sein Leben opfern?
Dabei ist „Investition“ – neben „Schutz“ – der am meisten propagandistisch mißbrauchte Begriff dieser Tage. Denn der Staat „investiert“ überhaupt nichts. Es investiert nur, wer eigene Mittel zielgerecht einsetzt, selbst das Risiko trägt und für seine Entscheidung einen begrenzten zeitlichen Horizont – zumal der Rückflüsse – vorsieht. Hier aber wird das noch nicht wertgeschöpfte Vermögen anderer ausgegeben, und zwar von Berufspolitikern, die weder zivil- noch strafrechtlich für Fehlentscheidungen haften.
„Wie isses nun bloß möglich?“ fragt Mutter Grete oft fassungslos in Walter Kempowskis Roman „Tadellöser & Wolff“. Darauf antwortet unsere Zeitschrift stets indirekt – mittels der in einem Heft vereinten Aufsätze. Wenn Wähler der Unionsparteien sich (zum wievielten Male?) von deren Führern getäuscht, ja belogen fühlen, dann haben sie noch nicht begriffen, daß Machtlust keine Grenzen kennt. Umstürze werden heute mit der taktischen Waffe der Legalität vorgenommen. Wir empfehlen dazu den Beitrag von Schmitt, den er nach dem letzten Weltkrieg für diese Zeitschrift geschrieben hat. Nicht die verwerfliche Trickserei der alten Unions-Fraktion zwecks Erklimmung der Kanzlerschaft macht die Grundgesetzänderungen vom 18. März illegitim, sondern deren mangelnde Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl. Billionen Euro Schulden dem ohnehin überlasteten, teils noch nicht einmal geborenen Volk aufzubürden, dies vermag auch ein legal zustande gekommenes Gesetz in ein ungerechtes Gesetz zu verwandeln. Die Ausführungen von Utz über die Autorität erhellen diesen Zusammenhang. Gleichwohl ist zu bedauern, daß sich in der kirchlichen Soziallehre in bezug auf den Staat der Begriff Auctoritas publica anstelle des treffenderen Begriffs Potestas publica (öffentliche Macht) des Dominikaners Francisco de Vitoria (1492-1546) eingebürgert hat. Wie Álvaro dʼOrs in seiner Auseinandersetzung mit Schmitts „Glossarium“ erläutert: „Herodes hatte die Macht, doch der heilige Johannes der Täufer, sein Berater, hatte die Autorität; Herodes befahl, daß man seinen Ratgeber enthaupte, aber seine Macht endete, während die Autorität des Enthaupteten bis heute und für immer fortlebt“ (Schmittiana, Bd. VII, Berlin 2001, 219-275, 253).
Der geradeaus blickende Große Friedrich hat im Bundestag, dort, wo 2011 Benedikt XVI. über die naturrechtlichen Grundlagen des Staates sprach, am 13. März den „Großen Sprung nach vorn“ ausgerufen. Er schien gar nicht zu wissen, wen er da zitierte. Die gespenstische Abwesenheit von Geschichte, Kultur, Religion und Gefühl ist ohnehin das Auffälligste an seinen Auftritten. Die Kampagne von Mao Tse-tung scheiterte binnen dreier Jahre. Der völligen Fehlsteuerung der Wirtschaft fielen je nach Schätzung 15 bis 40 Millionen Menschen zum Opfer. So pessimistisch bin ich diesmal nicht.
Wolfgang Hariolf Spindler OP